„Bist du nicht wütend weil deine Mutter dich so oft geschlagen hat?“ Nein, ich bin überhaupt nicht wütend. Ich wünschte sogar es wäre so einfach. Ok, das stimmt eigentlich nicht ganz. Ich bin wütend wegen vieler anderer Dinge, die mich gar nicht so wütend machen sollten, aber nicht deswegen. Vielleicht habe ich Angst auf sie wütend zu sein. Weil ich dafür eine Vergangenheit akzeptieren muss, die gar nicht zu meinem Leben passt und zu dem was ich empfinden möchte. Weil diese Zeit wie ein Fremdkörper für mich ist, mit dem ich mich nicht verbinden möchte. Außerdem ist das Leben nicht wie ein Film. Es gibt keine klare Linie zwischen gut und böse. Auch meine Mutter war nicht so schlecht. Sie selbst wurde viel schlimmer misshandelt. So sehr, dass ihr von ihrer Mutter mit einer Bratpfanne die Hand gebrochen wurde. Das Überbein davon hat sie heute noch. Flaschen wurden nach ihr geworfen. Eine Zeit lang mussten ihre Geschwister und sie sogar in einen Kübel defäkieren, weil kein Geld für die Handwerker da war, und als die Polizei in die Wohnung kam, wurden die Kübel umgeworfen und die Scheiße schwamm durch das Kinderzimmer. So gesehen war meine Kindheit ein Bilderbuch. Meine Mutter schaffte es einfach niemals ihre Dämonen zu besiegen. Und heute verstehe ich das besser als ich das möchte. Ich verstehe, dass ich diese unglaubliche Komplexität nicht verstehe. Die Dinge die sie in sich begraben musste und einfach immer weitermachen, einfach nur weil es das ist, was Menschen eben so tun. Das soll keine Ausrede sein die ich ihr zurechtlege, aber auf einer menschlichen Ebene, wenn ich vergesse, dass sie meine Mutter war, kann ich sie verstehen. Auch wenn es sich um exemplarisches Verständnis handelt. Ich verstehe sie als eine Mutter, wenn es nicht meine Mutter wäre. Meine Kindheit war auch nicht nur schlecht. Es gab darin sehr schöne Momente, aber meine Mutter fühlte sich immer schnell ohnmächtig und überfordert. Das Gefühl machte ihr Angst, weil sie schon so früh jede Kontrolle über ihr Leben verloren hatte, was sie in ihrer Kindheit immer mit Gefahr assoziieren musste, selbst wieder zu einem Opfer zu werden. Die Gewalt meiner Mutter war eine Art seelische Blindheit aus Verzweiflung, weil ihr nie jemand beigebracht hatte, wie man sich menschlich gegenüber verhalten sollte. Könnte man das von mir nicht auch sagen? Ja. Wieso kann ich das dann trotzdem? Weil nicht alle Menschen mit dem selben Maß an Empathie geboren werden, auch wenn diese Antwort vielen nicht gefallen könnte. In gewissem Maß ist das einfach eine menschliche Disposition. So wie die Menschen unterschiedlich gut mit Süchten umgehen können, genauso steht es um ihre Gabe die eigene Vergangenheit zu bewältigen. Und ja, die Vergangenheit ist eine Sucht. Sie verleitet einen ständig dazu darin nach dem eigenen Ich zu suchen, weil das immer noch weniger beängstigend ist, als sich nach der Zukunft zu orientieren. Wenn einem oft genug etwas angetan wird, fängt man irgendwann an es sich selbst anzutun. Darauf habe ich diesmal keine gute Antwort, aber es schweißt sich irgendwie einfach an das eigene Leben. Darum gibt es solche Sätze wie „Meine Eltern waren genauso und ich bin doch auch groß geworden“, weil die Vergangenheit ein gutes Werkzeug ist um die Gegenwart zu legitimieren, wir vertauschen quasi die Samen mit den Früchten, betrügen uns selbst mit einer pervertierten Normalität. Ich liebe meine Mutter. Und sie mich irgendwie auch. Nur dass Gewalt in ihrer Liebe etwas völlig normales ist. Darum sagte sie auch immer zu mir: „Ich hoffe du bringt mich nicht irgendwann um, weil ich so zu dir bin“, für sie war es normal so zu denken. Und das einzige was ich tun kann, ist mich aus diesem ganzen Chaos raus zu definieren und mich selbst in den tiefen Gedanken zu stoßen, was für ein Mensch ich sein will. Kann ich das beantworten? Nein, nicht mal annähernd. Aber ich weiß was für ein Mensch ich nicht sein möchte. Das ist ein Anfang, ein sehr sehr langer Anfang.