Der alte Flatscreen wies schon immense Pixelstörungen rechts und links an den Seiten auf. Grün-rote und gelbe Streifen, auf denen kein Bild mehr zu erkennen war. Vor wenigen Wochen hätte er diesen Ausfall auf vielleicht je zwei Zentimeter geschätzt. Jetzt aber, würde er die Problematik bei guten zehn Zentimetern sehen. Eine Frage der Zeit, wann das Display das Zeitliche segnen würde. Es war nicht so, dass sein Konto regelmäßig im Dispo segelte und sich da niemals wieder raus manövrieren könnte, aber so ein Lottogewinn, dachte er … ein neues Auto, ein Olet TV in 85 Zoll, das könnte ihm gefallen.
Die Ziehung der Lottozahlen ging los, er war bei bester Laune und die ersten beiden Zahlen stimmten schon mal mit seinem Schein überein. Er war entspannt, wobei da in ihm dieses leise, dennoch unbedingte, fast drängende Gefühl der Hoffnung, dass jetzt auch die dritte, vierte, fünfte und sechste Zahl mit denen auf seinem Schein übereinstimmte in ihm aufflammte und eine gewissen Euphorie auslöste. Das wird sowieso nichts, versuchte er sich einzureden, wie zur Bekräftigung schüttelte er seinen Kopf. Wie immer eben. Zwei von 49 brachte in Summe eben nullkommanix!
»Zwölf«, zischte er, der Schein lag trotz aller Gedankengänge angespannt in seinen Händen. Diese drängende Hoffnung, die Spielermagie hatte ihn im Griff.
»Zwölf«, verlas die gutaussehende Moderatorin. Er zog die Augenbrauen nach oben.
»Dreiunddreißig«, sagte er grinsend, als wäre es ein Spiel, das auf Leichtigkeit basierte. Solange man nicht alles gewann, ging es ja prinzipiell um nichts.
»Dreiunddreißig«
Seine Hände begannen zu zittern, sein Magen verkrampfte sich und sein Mund wurde trocken, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Es blieb ihm keine Zeit, um irgendwelche Bedürfnisse zu erfüllen. Er hatte jetzt vier von sechs. Die kleinen cremefarbenen Bälle drehten sich hin und her, rutschten über Kopf wieder nach unten und sammelten sich in dem farblosen, bauchigen Behälter, nur, um im nächsten Augenblick erneut von den Schienen nach oben geführt zu werden. Sein Blick war hochkonzentriert, der drängende Wunsch und die Hoffnung auf die Millionen beherrschten ihn jetzt.
»Acht«, hauchte er leise. Die Leichtigkeit wich aus ihn heraus, als würde man einem Ballon die Luft ablassen.
»Acht«
Er schrie spitz auf und wollte seine Frau aus der Küche dazu rufen, aber er konnte nicht. Als wäre der Zauber verflogen, sowie man ihn unterbrechen würde. Wie gebannt sah er all diesen 44 Kugeln hinterher. Ein kurzer Blick auf das zitternde Papier in seinen Händen, die fehlende Zahl war …
»Schatz, alles in Ordnung«, drangen die Rufe seiner Frau an seine Ohren. »Ja«, brüllte er laut. Nein, dachte er tief innen.
»Siebenundvierzig«, kam nur noch stockend geflüstert aus seinem Mund. Jetzt hatte er Adrenalin, sein Herz raste und jede Zelle seines Körpers hatte verteidigend Position bezogen als gebe es einen Feind, den es zu bekämpfen galt.
»Siebenundvierzig« erwiderte die Moderatorin wie zur Bestätigung.
Jetzt sackte er in sich zusammen. Das Spiel war vorbei, die Euphorie hatte er gegen andere Empfindungen eingetauscht, denn nun war er sprachlos, geflasht, verängstigt, glücklich, angespannt und gelöst zugleich. Ging das überhaupt, konnte ein Mensch synchron so ambivalente Gefühle haben? Es fühlte sich an wie Hunger bei Übelkeit. Wie fliegen bei heftigster Flugangst.
So also fühlte sich Gewinnen an?
Er hatte sich im Vorfeld nie Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde zu gewinnen. Er spielte auch nur, weil alle seine Kollegen und Freunde spielten. Diese eine Möglichkeit eben. Die Chance. So also war es, diese eine Chance bekommen zu haben, fragte er sich. Sein Herz jagte in seiner Brust, er konnte sich nicht bewegen und hatte Schiss, einen Infarkt vor Aufregung zu bekommen. Wie festzementiert, die Augen noch immer auf das defekte TV geheftet.
Dass die Zusatzzahl ebenfalls mit seinem Schein übereinstimmte, nahm er nur noch am Rande wahr, denn er fragte sich, was jetzt zu tun war. Glich dieses Wochenende bis eben noch einem glücklichen und zufriedenen Zustand in seinem Leben, fühlte er sich jetzt verängstigt, anfällig und durcheinander.
Seine Frau kam mit den liebevoll zurecht gemachten Tapas ins Wohnzimmer und stellte die kleinen Köstlichkeiten auf dem von ihm gebauten Holztisch ab. Wie im Trance nahm er wahr, dass sie ihm eine Flasche Borbones Rotwein reichte, damit er sie öffnete.
»Was ist mit dir, du bist leichenblass«, hörte er besorgt von ihr.
»Wir haben eben gerade einen Sechser mit Zusatzzahl im Lotto gewonnen« Klar, hörte er seine eigene Stimme, doch er erkannte sie kaum wieder. Seine Frau nahm anscheinend seine Hautfarbe an, denn auch sie war nun leichenblass.
Die eine Chance, doch glücklich sah seine Frau gerade nicht aus und glücklich fühlte er sich auch nicht.
Drei Monate später
Genervt zerrte er die Anfragen und Anschreiben der letzten zwei Tage aus dem Briefkasten. Es mussten um die fünfzig Stück sein, die er gerade in seiner linken Hand stapelte, nur, um sie umgehend in die Papiertonne zu katapultieren. Der Umzugswagen war schon gut gefüllt. Nur noch Kleinigkeiten, dann würden sich seine Frau und die Kinder ins Auto setzen und er sich hinters Steuer drücken, um ganz woanders neu anzufangen. Die Benutzerdaten der großen Lottogesellschaft wurden kurz nach ihrem Gewinn gehackt und seither gab es zusätzlich zu aller Grundnervosität ein Bombardement an Anfragen nach Spenden und Mitgliedschaften, an Vorwürfen und sozialer Ächtung. Wie sollte man sich bei so viel negativem Scheiß denn über einen Gewinn freuen?
Die eine Chance, dachte er zynisch, denn er liebte diese Stadt, sein Haus und vor allem die selbstgebaute Werkstadt im Keller. Er hatte sie kurz nach dem Einzug liebevoll und pedantisch errichtet. Jede einzelne Schublade gesägt, geschmirgelt, verleimt, alles hatte er aus Holz gebaut. Er war so stolz drauf, dass er keinen Fehler gemacht hatte.
Noch einmal ging er schweigend durch sein Haus, welches jetzt der Makler verkaufen würde, wobei die Summe, also der Erlös keine Rolle für ihn spielte. Es fühlte sich an, als hätte das Haus und alles, was sein Leben vor den 34 Millionen ausmachte an Wert verloren, nicht gewonnen. Das Dachgeschoss war leer. Er ging eins tiefer, die beiden Kinderzimmer waren leer. Die Kinder waren sauer, unglücklich und gestresst, da sie alle Freunde zurücklassen mussten. Der Große mit seinen siebzehn sogar die erste Liebe. Und dabei war ihnen nicht mal klar, warum. Er und seine Frau hatten sich entschieden, es den Kindern nicht zu sagen. Aus Angst, dass sie es einfach aufgrund naiver Freude weiter erzählen würden. Es fühlte sich für beide falsch an, solch einschneidende Veränderungen anzugehen und die Kinder über das Warum zu belügen. Das war definitiv nicht richtig. Er schüttelte sich, um die Gedanken um das Lügenmüssen abzustreifen.
Als er im Erdgeschoss ankam, überlegte er noch einmal in seinen geliebten Garten zu gehen und in seine Werkstatt, aber er konnte nicht. Übelkeit überrollte ihn und er musste sich jetzt hier losreißen. Etwas, dass er vor wenigen Monaten noch für unmöglich gehalten hatte. Er und hier weg? Ausgeschlossen. Nope, nada. Niemals.
Er stieg ins Auto, eisige Stille empfang ihn. Die Kinder ignorierten ihre Eltern, seine Frau kämpfte mit den Tränen, ihre kleinen Hände spielten nervös miteinander. Es war für alle schwer. Als er rückwärts ausparkte und den ersten Gang einlegte, schob sich sein Haus behäbig an ihm vorbei. So, als wollte es das was geschehen ist, rückgängig machen. Als würde es nach ihnen greifen und sagen wollen. Ich bin euer zu Hause, bleibt.
Er sah zur Seite, schaute seine Frau an. Kurz blickte er in den Rückspiegel, sah die Gesichter der Kinder. Dann suchte er im Spiegel seinen eigenen Blick.
Alle sahen aus, als hätten sie diese eine Chance nicht gewollt.