Sarkasmus ist der Mut der Verzweifelten

Du liefst zu mir in die Küche, weil dir gerade wieder alles zu viel wurde, hast das Küchengitter hinter dir zugeschlagen und die Kindersicherung davor gemacht. Darüber hatte ich mich immer gerne lustig gemacht, dass es in deiner Wohnung ein verdammtes Kindergitter gab. Das war einer unserer Insider, dass sowas wohl zu deinen fraglichen Erziehungsmethoden gehören würde. „Wer sich nicht benehmen kann, muss in den Käfig, dann und wann“, sprach ich in Reimen um dich aufzuziehen. Obwohl heiße Herdplatten eben wirklich nicht zum zugänglichen Abenteuerspielplatz werden sollten. Verdutzt stellte ich meinen Kaffee ab. Ich fragte dich, ob alles ok ist, und du hast wie immer nur cool geantwortet, wie das eben so zu deiner Art gehörte. Obwohl ich ja immer noch finde, dass das eigentlich meine Tour ist. „Ich habe gerade meine Mutter angerufen. Das war auch nur halb so klug“, sagtest du. Du hast es gehasst dich so wichtig zu fühlen, aber das brauchtest du gerade. In deinen Augen hattest du nie das Recht, einfach Panik zu bekommen. Du warst jetzt eine Mutter.
„Die Russen kommen?“, fragte ich.
„Komm, pieks nochmal und ich fang an zu weinen.“
„Du hast doch gar keine Zeit zum Weinen!“, untermalt mit meinem künstlichen Lachen. „Treffer versenkt.“
„Meine Emotional-Time ist zwischen 06:30 wenn die Kinder duschen sind, und 7 Uhr bis der Kaffee kocht. Dann weine ich immer leise“, äffte ich dich nach. „Du kümmerst dich zu wenig um dich selbst“, meinte ich eigentlich damit, aber das sagte ich natürlich nicht. Wir waren immer so sarkastisch zueinander. Eigentlich zappelten wir die ganze Zeit wie Fliegen in einem Netz aus Sarkasmus. Aber immer wenn du sarkastisch wurdest, wolltest du dich danach gleich wieder dafür entschuldigen. Du warst darauf programmiert dich schuldig zu fühlen. Dabei hatte ich deinen Sarkasmus lieb. Sarkasmus ist der Mut der Verzweifelten. Bei mir durftest du dich scheiße fühlen. Nicht einfach nur schlecht, sondern scheiße. Egal wie lächerlich dir selbst die Gründe dafür vorkamen, weil du zum Beispiel gerade wieder eine Kernschmelze bekommen hast, nachdem du ein Telefongespräch mit deiner Mutter führtest. Ich habe mir alles angehört. Ohne, dass ich darunter leiden würde, dich nicht reparieren zu können. Was dir noch ein zusätzlich schlechtes Gewissen beschert hätte, was auch der unausgesprochene Grund war, warum du dich von Menschen fast immer zurückgezogen hattest. Ich wollte für dich einfach nur da sein. Um dir Schatten zu spenden wie ein Baum. Und wenn du lieber alleine sein wolltest, dann würde ich das ebenfalls akzeptieren. Weiterhin verlässlich für dich da sein, und dabei nur etwas weiter weg. Natürlich hätte ich dich gerne gefragt, ob ich irgendetwas für dich tun kann. Wüsste ich nicht genau darum, wie naiv oder einfach nur gestellt diese Frage wäre. Ein Angebot damit du kurz gezwungen wärst so zu tun, als ob du dich besser fühlen würdest, obwohl wir beide es besser wissen, dass das gar nicht in meiner Macht läge. Das ich nicht die Möglichkeit dazu hatte. Hätte ich es in dieser Situation gesagt, dann nur, um mir selbst ein warmes Gefühl zu geben, was für ein guter Mensch ich wäre, damit du dich in der Pflicht fühlen würdest, dich dafür zu bedanken. Wir hatten einander nur eines zu geben. Raum. Du weintest und hast gleichzeitig gelächelt. Es war ein sehr stilles Weinen. Ich fragte mich immer, wer von uns beiden jünger oder älter war. Zwischen uns herrschten andere Regeln der Zeit. Wir beide hatten ein Trauma aus unserer Kindheit. Dinge, die wir sehr lange verdrängt hatten. Die wir erst jetzt begannen langsam wieder auszugraben. Diese ganze Integration auf Desintegration führte dazu, dass wir uns wir gänzlich neue Menschen fühlten. Weil wir uns zum ersten Mal selbst verstanden haben. Wir waren wie Klone von uns selbst. Das erst war unser richtiges Leben. Alles fühlte sich an wie eine Zeitreise. Nachdem wir uns erinnerten, an fast alles, war das als ob wir wieder Kinder wurden. Nachdem wir diese Zeit solange mit der Schere unseres Unterbewusstseins aus unserer Erinnerung ausgeschnitten hatten. Aber jetzt kam alles wieder zurück. Als ob wir die eigene Kindheit re-absorbiert hätten. Gleichzeitig wurde uns aber dadurch bewusst, dass wir jetzt erwachsen geworden waren. Und alles zusammengenommen fühlte es sich so an, als ob wir schlagartig erwachsen geworden wären. An einem Tag noch Kind, am nächsten haben wir selbst Kinder. Für andere Leute mag das alles keinen Sinn ergeben, aber es war unser beider Realität und das schweißte uns zusammen. Wir so kaputt wie zerbrochenes Porzellan, und mussten uns immer wieder mit Sarkasmus zusammenhalten. Du warst längere Zeit obdachlos und dann in einer Klinik, weil du dir Psychosen angekifft hattest. Danach zogst du in eine WG, weil du dank Schulden keine seriöse Unterkunft fandest. Der Anbieter war ein Typ, der wirklich, wirklich gruselig war, und du hattest dir vorsichtshalber die Pille geholt, falls seine Übergriffigkeit gewaltsam werden würde. Bei dem Frauenarzttermin hast du dann erfahren, dass du schwanger wurdest. Du musstest so extrem darüber lachen, sofort und unmittelbar, weil das einfach der einzige Zeitpunkt für sowas war, der in den Plot passte. Aber wie sagtest du immer? „Eine Vergewaltigung wäre es nur gewesen, wenn ich Nein gesagt hätte“. Das alles fühlte sich wie Verrücktwerden an und saß im Nacken. Und Gott, wenn du darüber nachgedacht hast, wurden deine Augen so unglaublich traurig, und ich konnte dir richtiggehend dabei zusehen, wie du gleichzeitig alles zu verstecken suchtest. Wie du mit den Augen deine ganze Welt zusammengehalten hast, und langsam kraftlos wurdest, als ob du an einer Felsspalte hängen würdest. Du warst so vergiftet und so wunderschön.

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